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Frankfurt im Frühjahr 1933 

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 vollzog sich in kurzer Zeit die revolutionäre Umwandlung der Demokratie von Weimar in die NS-Diktatur.

In Frankfurt wurde schon zwei Wochen später der republikanische Polizeipräsident Ludwig Steinberg durch einen Nationalsozialisten ersetzt. Am 23. Februar kam Hitler in die mit Hakenkreuzfahnen geschmückte Stadt. Seine Rede in der Festhalle wurde ins Hippodrom, auf den Börsenplatz und den Opernplatz übertragen und unter der Moderation von Josef Goebbels vom Südwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlt. Hitler sagte:

Wir werden die Freiheit in Deutschland einführen, indem wir ihre grimmigsten Feinde vernichten. […] Die Vertreter des verflossenen Systems werden keine Gelegenheit mehr haben, beim Aufbau der neuen deutschen Volksgemeinschaft mitzureden.

Frankfurt jubelte. Vier Tage später, am Abend des 27. Februar, brannte in Berlin der Reichstag. Am Nachmittag des Folgetages erließ der Reichspräsident die so genannte „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Damit war der Ausnahmezustand verkündet, die demokratischen Grundrechte aus der Verfassung von Weimar außer Kraft gesetzt und die beschönigend mit „Schutzhaft“ bezeichnete willkürliche Verhaftung ohne richterlichen Beschluss möglich geworden.

Am 3. März, zwei Tage vor der Reichstagswahl, sprach Hermann Göring in der Frankfurter Festhalle.

Ich gebe das Signal, auf der ganzen Linie zum Angriff vorzugehen! Volksgenossen! Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken, […] durch irgendeine Bürokratie, hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!

Am 6. März, kurz vor Mitternacht, besetzte die SA in Darmstadt das Innenministerium des Volksstaats Hessen und am selben Tag in Frankfurt das Gewerkschaftshaus. Am 8. März feierte die NSDAP das Ergebnis der Reichstagswahl mit einer Flaggenparade und Kundgebung in der Altstadt.

Am 11. März, dem Tag vor der Kommunalwahl, wurde der liberale jüdische Oberbürgermeister Ludwig Landmann durch Drohungen zum Rücktritt veranlasst. Sein Nachfolger kam aus der Frankfurter Justiz. Es war der Landgerichtsrat Dr. Friedrich Krebs. Am Römer wehte erstmals die Hakenkreuzfahne. Die Universität und die Akademie der Arbeit wurden zum Opfer nationalsozialistischen Terrors.

Am 21. März wurden alle im Zuge der so genannten nationalen Erhebung begangenen Straftaten amnestiert, Haftbefehle aufgehoben und Strafverhandlungen nicht mehr zu Ende gebracht. Auch in Frankfurt markieren die letzten Tage des März 1933 das Ende einer rechtsstaatlichen Justiz.

Zur Vorbereitung des für den 1. April 1933 angeordneten Boykotts gegen alle jüdischen Geschäfte, jüdischen Ärzte, Anwälte und andere Berufsträger fand am Vormittag des 30. März eine Kundgebung der NSDAP auf dem Römerberg statt. Zunächst sprach Gauleiter Jakob Sprenger, dann der neue Oberbürgermeister Krebs und danach der aus Berlin angereiste Roland Freisler. Dieser Rechtsanwalt aus Kassel, seit April 1932 Abgeordneter für die NSDAP im Preußischen Landtag und prominenter NS-Agitator, war wenige Tage vorher als Ministerialdirektor ins Preußische Justizministerium berufen worden.

Nachmittags besuchte Freisler die Justizbehörden. Wie die Frankfurter Zeitung berichtete, machte Freisler im Anschluss an diese Veranstaltung den OLG-Präsidenten mit dem sog. „Kerrl-Erlass“ vertraut. Das war die tags darauf telegrafisch übermittelte Anordnung des kommissarischen preußischen Justizministers Hanns Kerrl an alle OLG-Präsidenten, Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Strafvollzugsämter in Preußen, die u.a. so lautete:

Die Erregung des Volkes über das anmaßende Auftreten amtierender jüdischer Rechtsanwälte und jüdischer Ärzte hat Ausmaße erreicht, die dazu zwingen, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß besonders in der Zeit des berechtigten Abwehrkampfes des deutschen Volkes gegen die alljüdische Greuelpropaganda das Volk zur Selbsthilfe schreitet. Das würde eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der Autorität der Rechtspflege darstellen.

Es muß daher Pflicht aller zuständigen Behörden sein, dafür zu sorgen, daß spätestens mit dem Beginn des von der NSDAP geleiteten Abwehrboykotts die Ursache solcher Selbsthilfeaktionen beseitigt wird.

Ich ersuche deshalb umgehend, allen amtierenden jüdischen Richtern nahezulegen, sofort ihr Urlaubsgesuch einzureichen und diesem sofort stattzugeben. […] In allen Fällen, in denen jüdische Richter sich weigern, ihr Urlaubsgesuch einzureichen, ersuche ich, diesen kraft Hausrechtes das Betreten des Gerichtsgebäudes zu untersagen. […] Besondere Erregung hat das anmaßende Auftreten jüdischer Anwälte hervorgerufen. Ich ersuche deshalb, mit den Anwaltskammern oder örtlichen Anwaltsvereinen noch heute zu vereinbaren, daß ab morgen früh 10 Uhr nur noch bestimmte jüdische Rechtsanwälte […] auftreten.

Am Folgetag, dem 31. März, rasselten Gefängniswagen durch die Straßen, Geschäfte jüdischer Inhaber wurden boykottiert und beschädigt, einige jüdische Kaufleute verhaftet. Am Nachmittag wurden die mehr als 30 jüdischen Richter von Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht zum OLG-Präsidenten Dr. Hempen einbestellt. Dieser schickte sie in den Zwangsurlaub. Er verbot ihnen, einen Tag später, am 1. April, dem eigentlichen Boykotttag, zum Dienst zu erscheinen; andernfalls werde ihnen der Zutritt mit Gewalt verweigert werden.

Erstes Urteil des Frankfurter Sondergerichts

An diesem 1. April, einem Samstag, erging auch das erste Urteil des Frankfurter Sondergerichts. In vorauseilendem Gehorsam hatte die Frankfurter Justiz auf die nur wenige Tage zuvor in Berlin beschlossene Einrichtung dieser Spruchkörper reagiert. Kurzfristig waren der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts entsprechend geändert und die Richter für das neue Sondergericht bestimmt worden.

Im großen Schwurgerichtssaal verurteilte das Sondergericht an diesem Morgen den 25-jährigen Erich Löwenstein in einem kurzen Prozess zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr; angeblich hatte er eine Woche zuvor ganz in der Nähe der Gerichtsgebäude vor einem kleinen Kiosk am Sandweg davon gesprochen, dass Nationalsozialisten in Worms einen Juden aufgehängt hätten. Das Sondergericht behandelte diese Äußerung ohne ausreichende weitere Aufklärung als unwahr. Die Behauptung sei geeignet, das Wohl des Deutschen Reichs, das Ansehen der Reichsregierung und der NSDAP schwer zu schädigen. Das war strafbar nach der erst neun Tage alten Heimtückeverordnung, die den Schutz der Regierung Hitler und der sie unterstützenden Organisationen bezweckte.

Die Richter des Sondergerichts waren altgediente Richter, die ihre Ausbildung noch im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik erfahren hatten.

Vier Wochen später, Ende des Monats April, waren nahezu alle Richter von Amts- und Landgericht, alle Staatsanwälte sowie rund die Hälfte der Richter des Oberlandesgerichts Mitglied in der NSDAP.

Repressalien setzen sich fort

Den Richtern des Oberlandesgerichts konnten die signifikanten Änderungen der Lebensbedingungen insbesondere für Juden in Deutschland nicht entgehen. Der von der Justizverwaltung vor Ort gegen die jüdischen Kollegen und Anwälte entfaltete diskriminierende Repressionsdruck war offenkundig.

Augenfällig waren auch die gewaltsamen Ausschreitungen gegen die noch zugelassenen Anwälte. Der Furor setzte sich nach dem Boykotttag fort. Im Mai und Juni 1933 machten Schlägertrupps geradezu Jagd auf jüdische Anwälte und Justizmitarbeiter des nachgeordneten Dienstes, ohne dass die Präsidenten der Gerichte mit Hilfe ihres Hausrechts einschritten. Einige der verfolgten Anwälte wurden gewaltsam auf Lastwagen verladen und aus der Stadt gefahren.

Am 17. Juli kam es erneut zu Ausschreitungen. Dabei wurde der 55-jährige Rechtsanwalt Dr. Alfred Grünebaum schwer misshandelt.

Dr. Alfred Grünebaum
Dr. Alfred Grünebaum

Den blutüberströmten Mann ließ der OLG-Präsident Stadelmann – seit Juni im Amt – durch eine Seitentür in Sicherheit bringen. Der von ihm telefonisch kontaktierte Polizeipräsident lehnte die Entsendung eines Überfallkommandos ab. Als schließlich die politische Polizei mit 10 Mann erschien, ergriff sie nicht die Schläger; stattdessen nahm sie fünf jüdische Deutsche, die sich gerade als Zeugen, Prozessbeteiligte oder Angeklagte in den Gerichtsgebäuden aufhielten, rechtswidrig in sog. Schutzhaft.

Außerhalb der Gerichtsgebäude war für die Richter der gewalttätige Boykott gegen exponierte Einzelhandelsgeschäfte in zentraler Lage, insbesondere gegen von Juden geführte Geschäfte auf der benachbarten Zeil, unmittelbar wahrnehmbar.

Antisemitische Schmierereien Zeil 93
Schmierereien an einem Schaufenster auf der Zeil

Veränderungen des gerichtlichen Alltags

Die Anpassung an „die neue Zeit“ prägte nicht nur Verfahren und richterliche Entscheidungen, sondern auch Äußerlichkeiten im Alltagsbetrieb der Gerichte. Neu waren die jetzt hakenkreuzbesetzten Roben und Barette der Richter. Alle Sitzungen wurden stehend mit dem „deutschen Gruß“ eröffnet und ebenso beendet.

Vergilbtes Papier, auf dem die Amtstracht beschrieben und skizziert wurde.
Neue Roben mit Hakenkreuz

Zum gerichtlichen Alltag gehörte auch die verpflichtende Teilnahme an nationalsozialistischen Ritualen. Anlässlich der „vierten Wiederkehr des Tages der nationalen Erhebung am 30. Januar 1937“ etwa ordnete der OLG-Präsident an, dass sich „alle Justizbediensteten pünktlich und ausnahmslos um 12.30 Uhr“ im Treppenhaus zu versammeln hatten.

Historische Deckenverzierungen im Amtsgericht Frankfurt
Treppenhaus Tonnengewölbe „Gerichtsneubau

Zweck der Versammlung war das Abhalten einer Feierstunde aus Anlass „der vierten Wiederkehr des Tages der nationalen Erhebung am 30. Januar 1933“ mit diesem Programm:

  1. Fahneneinmarsch,
  2. Gemeinsamer Gesang des Liedes „Volk ans Gewehr“, 1. Strophe,
  3. Ansprache,
  4. Sieg-Heil auf den Führer,
  5. Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied,
  6. Fahnenabmarsch.

Im Anschluss an die Feierstunde sah die Anordnung weiter vor, dass sich die Teilnehmer zum Gemeinschaftsempfang der Rede des Führers in die dafür vorgesehenen Räume begeben sollten.

Wirken der Justizverwaltung

Die Justizverwaltung vor Ort beteiligte sich auch aktiv an der Diskriminierung und Entrechtung jüdischer Einrichtungen. Beispielsweise änderte der Mitte 1939 ins Amt gelangte OLG-Präsident Prof. Arthur Ungewitter wenige Wochen später den Vorschlag seines Verwaltungsreferenten zur Genehmigungsfähigkeit neuer jüdischer Stiftungen ins Gegenteil. Der ursprüngliche Entwurf für den Bericht an den Reichsjustizminister hatte gelautet: „Die Genehmigung neuer jüdischer Stiftungen wird zu erteilen sein." Ungewitter strich das Wort „erteilen" und ersetzte es willkürlich durch „verbieten".

Ungewitter sorgte auch für eine systematische Lenkung der Rechtsprechung in Strafsachen. So veranlasste er durch einen gemeinsamen Bericht mit Generalstaatsanwalt Kurt Wackermann eine Nichtigkeitsbeschwerde, die zur Folge hatte, dass ein als zu milde angesehenes Urteil des Landgerichts Limburg aufgehoben und der angeklagte Friseur wegen homosexueller Handlungen in einer neuen Verhandlung zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.