Amtsgericht Gießen

Geschäftsentwicklung 2020

Lesedauer:30 Minuten

A. Gerichtsbetrieb in Zeiten der Pandemie

1. Justiz kennt keinen „Lockdown“

Justiz kennt keinen „Lockdown“. Hat andernorts der Einbruch der Pandemie seit Mitte März 2020 zu Stillstand, Ratlosigkeit und Paralyse geführt, war die Justiz vom ersten Tag an gezwungen, Funktionstüchtigkeit und Belastbarkeit auch unter Extremverhältnissen unter Beweis zu stellen.

Zahlreiche Entscheidungen, die die Justiz zu treffen hat, dulden keinen Aufschub, auch nicht in Zeiten der Pandemie. Ob gegen einen Beschuldigten ein Haftbefehl erlassen wird, ob das Familiengericht eine Maßnahme zu Gunsten eines möglicherweise gefährdeten Kindes zu treffen hat, ob gegen eine sich in Untersuchungshaft befindende Angeklagte eine Hauptverhandlung durchgeführt wird, ob jemand in einem psychiatrischen Krankenhaus vorläufig untergebracht oder fixiert werden muss - dies alles sind Entscheidungen, die die Justiz nach wie vor zu treffen hatte und die sie nach wie vor gerade mit Priorität zu treffen hat. Diese Priorität heißt übersetzt „Eilbedürftigkeit“, und Verfahren wie die eben geschilderten blieben eilbedürftig, ungeachtet der Pandemie.

Neben diesen eilbedürftigen Entscheidungen war die Justiz auch in Zeiten der Pandemie mit all den Verfahren beschäftigt, mit denen sie auch sonst zu schaffen hatte. Passivität und Inaktivität kam bezüglich dieser Verfahren, die im hergebrachten Sinne nicht eilbedürftig scheinen, fraglos nicht in Betracht. Die Funktionsfähigkeit der Justiz war und ist nicht disponibel und muss sich nach dem Verständnis aller an Justiz Interessierten gerade in herausfordernden Zeiten beweisen. Der Nachweis dieser Funktionstüchtigkeit ist dem Amtsgericht Gießen als Teil der gesamten hessischen Justiz gelungen. Die Pandemie stellte die Justiz spätestens ab Mitte März 2020 vor schwere Aufgaben. Seit dieser Zeit stimmten sich die Präsidentinnen und Präsidenten der Amts- und Landgerichte in Hessen in regelmäßigen Telefonkonferenzen mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Prof. Dr. Poseck ab, der wiederum die Erfahrungen und Bedürfnisse der örtlichen Praxis mit dem Hessischen Ministerium der Justiz und Frau Staatsministerin Kühne-Hörmann rückkoppelte. So wurde ein Prozess etabliert, der die jeweils auftretenden Fragen vor Ort aktiv aufnehmen und verarbeiten konnte und gleichzeitig gewährleistete, dass in wesentlichen Fragen Einheitlichkeit im Handeln bestand, dies bei allen Freiräumen, die die Praxis vor Ort nutzen konnte und wollte. Dieser früh eingeleitete Prozess gewährleistete durchgängig die Funktionsfähigkeit der Justiz bei größtmöglichem Schutz aller an den Verfahren Beteiligten, dem Publikum sowie der Bediensteten vor Ort vor dem Corona-Virus.

2. Die Pandemie „vor Ort“

Das Amtsgericht Gießen hat früh zielführende Maßnahmen getroffen, die einerseits auf Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs und andererseits den Schutz von Verfahrensbeteiligten, Publikum und Bediensteten vor Ort zielen.

Die Pandemie erreichte das Amtsgericht Gießen konkret Anfang März 2020. Noch in der gleichen Woche wurde ein örtlicher Organisationsstab, der so genannte Pandemiestab, einberufen, der fortan in regelmäßigen Abständen tagte und unter Einbeziehung aller Mitarbeitergruppen sowie der Personalvertretungsgremien die jeweils aktuelle Lage evaluierte und unter Verarbeitung der Ergebnisse aus den Präsidentenkonferenzen über hausinterne Maßnahmen beriet.

Dies führte zu durchweg positiven Ergebnissen.

a) Zugang zum Gericht durchweg gewährleistet

Von Beginn der Pandemie an blieb das Amtsgericht Gießen durchweg für Beteiligte wie für Publikum geöffnet.

Lediglich vereinzelte Abteilungen, die in der Vergangenheit Anträge durch persönliche Vorsprache aufnahmen, stellten mehr und mehr auf die Abgabe schriftlicher Anträge und Telefonate um, um persönliche Kontakte zu reduzieren. Darüber hinaus wurde die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske in Räumlichkeiten des Amtsgerichts eingeführt. WC-Anlagen und Gänge wurden mit Desinfektionsmitteln ausgestattet, Reinigungsintervalle nennenswert erhöht.

b) Sitzungsbetrieb aufrechterhalten

Der richterliche Sitzungsbetrieb fand weitgehend unverändert statt, ein nennenswerter Rückstau an Verfahren ist nicht zu beobachten.

Einen spürbaren Rückgang im Sitzungsbetrieb hatte das Amtsgericht Gießen überhaupt nur in der allerersten Phase der Pandemie - gewissermaßen der Orientierungsphase - zu verzeichnen, und zwar im Zeitraum zwischen Mitte März 2020 und Anfang Mai 2020. Einzig hier kam es zu einem eingeschränkten Sitzungsbetrieb, wobei eilbedürftige Verfahren nach wie vor selbst in dieser Phase unverändert durchgeführt wurden. Hier wurden Strafsachen größtenteils zunächst auf Ende der Osterferien verlegt - bei normalem Weiterverhandeln von Haftsachen. In Zivilverfahren wurde überwiegend im schriftlichen Verfahren entschieden, indes fanden auch hier teilweise Termine zur Beweisaufnahme statt, die grundsätzlich ein Verhandeln vor Ort voraussetzen. Zwangsversteigerungstermine wurden zunächst - bis Ende April 2020 - aufgehoben, danach wieder regulär durchgeführt. In Betreuungssachen wurden Anhörungen beschränkt auf eilbedürftige Fällen von Unterbringung und Fixierung. In Familiensachen konzentrierten sich die Verhandlungen in dieser Phase auf eilige Sorgerechts- und Umgangsverfahren.

Diese erste Phase war von kurzer Dauer. Bereits ab Anfang/Mitte Mai 2020 hatte sich der Sitzungsbetrieb in weiten Teilen des Amtsgerichts wieder normalisiert und den Umfang aus der Zeit vor Anfang März 2020 angenommen. Dies gilt insbesondere für Strafsachen, wo einzig Sitzungen mit einer überdurchschnittlich großen Anzahl an Verfahrensbeteiligten noch nicht uneingeschränkt stattfinden konnten.

Die Normalisierung des Sitzungsbetriebs war maßgeblich möglich durch ein Bündel an Maßnahmen, die auf Durchführung der Sitzung bei größtmöglicher Verringerung des Ansteckungsrisikos zielten.

So wurde zunächst das Sitzungssaalmanagement dahingehend angepasst, dass größere Räume den Verfahren zugewiesen wurden, in denen eine größere Anzahl an Verfahrensbeteiligten zu erwarten ist. So wurden sämtliche Räume mit Trennscheiben ausgestattet, die zwischen einzelnen Beteiligten aufgestellt wurden. So wurde die Anzahl der für die Öffentlichkeit nutzbaren Plätze gesetzeskonform so reduziert, dass zwischen jedem potentiell besetzten Platz hinreichender Sicherheitsabstand zum nächsten Platz eingehalten war. So wurden die Arbeitsflächen in sämtlichen Sitzungssälen regelmäßig gereinigt und desinfiziert. So wurde – angesichts der Verkehrslage vor dem Amtsgericht, insbesondere der Nähe zum Anlagenring mit hoher Verkehrsdichte, nicht immer einfach – durchweg darauf geachtet, nach Möglichkeit bei geöffneten Fenstern zu verhandeln, und es wurden regelmäßige Sitzungspausen zwecks Lüftens der Säle eingelegt. Schließlich wurden etliche Sitzungsräume mit Luftreinigungsgeräten ausgestattet. Insgesamt wurde mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen sichergestellt, dass regulärer Sitzungsbetrieb und größtmögliche Reduzierung des Infektionsrisikos kein natürlicher Widerspruch sind. Ungeachtet dessen verblieben Verfahren, insbesondere im Bereich der Schöffengerichte, in denen die Vielzahl an Beteiligten ein Verhandeln in den Räumlichkeiten des Amtsgerichts nicht mehr als vertretbar erschienen ließ. Hier war es dank einer großzügig gelebten Kooperation mit dem Landgericht Gießen möglich, in etlichen Fällen auf große Sitzungssäle des Landgerichts auszuweichen. Die Frage des Maskentragens während Sitzungen war und ist eine so genannte sitzungspolizeiliche Maßnahme, die d. jeweiligen Richterinnen und Richter obliegt. Hier haben sämtliche Kolleginnen und Kollegen in dieser schwierigen Zeit durchweg verantwortungsvolle Entscheidungen getroffen, die den Bedürfnissen der Rechtsfindung einerseits, den Anforderungen der Pandemie andererseits im jeweils konkreten Fall gerecht werden konnten.

Im Geschäftsjahr 2020 ist kein einziger Fall bekannt geworden, in dem sich jemand im Rahmen einer beim Amtsgericht Gießen durchgeführten mündlichen Verhandlung mit dem Corona-Virus angesteckt hätte.

c) Schutz der Bediensteten bei regulärem Dienstbetrieb

Auch innerhalb der Behörde wurde das Ziel, bei voller Aufrechterhaltung des regulären Dienstbetriebes die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor dem Virus zu schützen, erreicht.

Die Maßnahmen zielten hier vor allem auf Reduzierung der Anwesenheit im Gericht und auf Verringerung der Personalstärke in den jeweiligen Dienstzimmern. Eine der tragenden Maßnahmen war, bereits im März 2020 den von der Gleitarbeitszeit vorgegebenen zeitlichen Rahmen aufzuheben und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit ein zeitlich flexibleres Arbeiten zu ermöglichen. Dies wurde gut angenommen und verantwortungsvoll gelebt. Gleichzeitig wurde die Belegungsstärke in den Räumen dahingehend angepasst, dass maximal ein*e Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Raum anwesend war.

Generell wurden Besprechungen innerhalb des Gerichts seit Anfang März 2020 entweder im Wege von Telefonkonferenzen oder über Skype-Konferenzen durchgeführt. Vereinzelt, wenn die Teilnehmerzahl dies vertretbar erschienen ließ, wurden Besprechungen mit Maskenpflicht in große Räume verlegt, in denen erstens ausreichender Abstand gewahrt werden konnte und bei denen durch Öffnen großer Fenster Luftaustausch sichergestellt war.

d) Ausbildungsbetrieb gesichert

Besondere Anforderungen stellte die Pandemie an den Bereich der Ausbildung.

Für jeden der drei Ausbildungsjahrgänge waren bis zu 18 Auszubildende in einer Klasse tätig. Der Ausbildungserfolg war zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Nach einer ersten Phase, in welcher die Ausbildung durchweg im Wege des Distanzunterrichts stattfand, fand eine Aufteilung der Klassen in Kleingruppen statt, die als Gruppe sukzessive und rotierend am Unterricht teilnahmen. Einem verantwortungsvollen „Fahren auf Sicht“ wie einem außerordentlichen großen Engagement der Ausbilderinnen und Ausbilder vor Ort ist es zu verdanken, dass sämtliche Ausbildungsjahrgänge „gut durch das erste Jahr der Pandemie gekommen“ und trotz der veränderten Bedingungen ansprechende Prüfungsleistungen zu erwarten sein werden.

Fälle, in denen sich Auszubildende in den Räumen des Amtsgerichts Gießen angesteckt haben, sind nicht bekannt geworden.

B. Personalentwicklung

1. Personalbestand

Die Personalsituation hat sich im Vergleich zum Vorjahr als im Wesentlichen konstant erwiesen.

Zum 31.12.2020 waren beim Amtsgericht Gießen insgesamt 271 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt – ein leichter Rückgang des Personalbestands im Vergleich zum Vorjahr: Zum 31.12.2019 hatte die Zahl der Beschäftigten 275 betragen.

Der Rückgang im Personalbereich geht im Wesentlichen auf einem Rückgang der Beschäftigten bei den Beamtinnen und Beamte im gehobenen Dienst, den Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, zurück. Hier konnten entstandene Lücken durch Pensionierungen und Weggang an andere Gerichte (noch) nicht vollständig geschlossen werden.

Im Einzelnen stellt sich die Personalsituation zum 31.12.2020 (im Vergleich der Vorjahre) wie folgt dar:

Das Amtsgericht Gießen ist - wie schon für das Geschäftsjahr 2019 ausgeführt - „weiblich“ und Vorbild in Sachen Frauenförderung und Gleichberechtigung:

Von den 271 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind 214 Frauen, ein (gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegener) Anteil von knapp 79 %. In allen Bereichen (sieht man vom Wachtmeisterdienst einmal ab) liegt der Frauenanteil beim Amtsgericht Gießen damit weit über dem Anteil der männlichen Beschäftigten: So sind zwischenzeitlich 63,33 % der Richterinnen und Richter, 58,33 % der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, 93,54 % der Beamtinnen und Beamte des mittleren Dienstes und sogar 94,80 % der Angestellten weiblich. Bei den Auszubildenden ist der Anteil mit rund 84 % ebenfalls ausgesprochen hoch.

Der Frauenanteil beim Amtsgericht Gießen zum 31.12.2020 auf einen Blick:

Kopfzahl

Dienstzweig31.12.201831.12.201931.12.202031.12.2020
(weiblich)
Richterlicher Dienst28303019
Höherer Dienst1111

Gehobener Dienst

(Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger)

40413621

Beamtinnen und Beamte mittlerer

Dienst / Angestellte

112105108102
Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher1012117

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Ausbildung

65757462
Wachtmeisterei1111112

 

Arbeitskraftanteile

Dienstzweig31.12.201831.12.201931.12.2020
(weiblich)
Richterlicher Dienst26,5027,5027,0016,00
Höherer Dienst1,001,001,001,00

Gehobener Dienst

(Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger)

36,2037,6033,0518,05

Beamtinnen und Beamte mittlerer

Dienst / Angestellte

94,3089,7894,0688,06
Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher9,7011,7511,757,75

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Ausbildung

65,0075,0074,0062,00
Wachtmeisterei10,4610,4611,002,00

 

2. Personalveränderungen

Im Geschäftsjahr 2020 sind insgesamt drei erfahrene, langjährig beim Amtsgericht Gießen tätige Richterpersönlichkeiten wegen Erreichens der Altersgrenze ausgeschieden. Ein weiterer Kollege wurde an das Hessische Ministerium der Justiz abgeordnet.

Sämtliche freiwerdenden Stellen konnten durch das Hessische Ministerium der Justiz - weitgehend nahtlos - ersetzt werden, und zwar durch Proberichterinnen und Proberichter in erster richterlicher Verwendung. Damit sind aktuell beim Amtsgericht Gießen insgesamt sechs Richterinnen und Richter auf Probe (die Probezeit beträgt dreieinhalb Jahre) tätig; davon sind drei Frauen. Zwei der Proberichterinnen und Proberichter stehen 2021 zur Ernennung auf Lebenszeit an. Es besteht die begründete Hoffnung, dass beide nach erfolgreicher Lebenszeiternennung dem Gericht als gut eingearbeitete Kräfte weiter zur Verfügung stehen.

Die Gerichtsleitung blieb im Geschäftsjahr 2020 unverändert: Sie besteht nach wie vor aus Präsidenten, Vizepräsidenten, Geschäftsleiterin und drei Richterinnen und Richter am Amtsgericht als weitere aufsichtführende Richter, davon zwei Frauen.

Mit einer Personalstärke von 28,5 Richterstellen in 2020 gehört das Amtsgericht Gießen weiterhin zu den mittelgroßen Amtsgerichten in Hessen.

3. Personalausstattung

Die personelle Ausstattung stellt sich wie folgt dar:

Bei den Angestellten und Beamtinnen und Beamte des mittleren Dienstes zeigen die Maßnahmen der Hessischen Landesregierung (sog. „Sicherheitspaket“), welche 2016 durch Frau Staatsministerin Kühne-Hörmann zur Verbesserung der personellen Ausstattung der Justiz auf den Weg gebracht wurden, erste Früchte. Lag die durchschnittliche Arbeitsbelastung 2019 noch bei 119,07 %, so ist sie 2020 auf 111,05 % (und damit unter den Wert von 114,90 % aus dem Jahr 2018) gefallen - eine deutliche Reduzierung der Belastung. Die Belastung liegt damit zwar immer noch deutlich über 100 %, indes geht die Entwicklung doch klar in die richtige Richtung. Ein „noch schnellerer“ Personalzufluss ist durch den Ausbildungsgang der nachrückenden Kräfte auch schwer möglich: Die Tätigkeit als Justizfachangestellte*r oder Justizsekretär*in auf den Geschäftsstellen, den Assistenzen der Richterinnen und Richter und Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, den sog. „Serviceeinheiten“, setzt eine anspruchsvolle und in der Regel dreijährige justizinterne Ausbildung voraus, die nicht ohne weiteres durch Absolventinnen und Absolventen anderer kaufmännischer Berufe geschlossen werden kann. Damit muss zunächst die Zahl der eigenen Auszubildenden erhöht werden, um nach erfolgreicher Ausbildung den eignen Nachwuchs für die „Serviceeinheiten“ zu rekrutieren.

Im Bereich der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, dem gehobenen Dienst in der Justiz, hat sich die personelle Ausstattung gegenüber dem Vorjahr leicht verschlechtert. Lag die tatsächliche Belastung im Jahr 2019 noch bei 110,07 %, so liegt sie 2020 bei 116,00 %. Dies ist – wie oben bereits ausgeführt – darauf zurückzuführen, dass im Geschäftsjahr 2020 ausgeschiedene Kolleginnen und Kollegen (noch) nicht nahtlos ersetzt werden konnten.

Im Bereich des richterlichen Dienstes ist die Personaldecke im besten Sinne auskömmlich und die Belastung mit 103,45 % nach wie vor deutlich „im grünen Bereich“. Die Belastung liegt damit sogar noch geringfügig unter dem Vorjahr (2019: 104,32 %). Auskömmliche Ausstattung heißt nicht immer „einfaches Richterleben“: Trotz dieser (auch im hessenweiten Vergleich) günstigen Belastungswerte im richterlichen Bereich ist die Arbeit der Richterinnen und Richter generell schwieriger geworden ist. Grund dafür ist eine Reihe von „Umweltfaktoren“, zu denen etwa gehört, dass Verfahren zunehmend aufwändiger werden, sei es, dass die rechtliche Beurteilung schwieriger, die rechtliche Lage komplexer geworden ist, sei es, dass alleine schon die Anzahl an Verfahrensbeteiligten (nicht zuletzt in den verhandlungsintensiven Bereichen von Familien- und Strafabteilung durch Hinzuziehung von Dolmetscherinnen und Dolmetscher und Sachverständigen) größer geworden ist und die Komplexität der Verfahren und die Anforderungen an effektives Verfahrensmanagement steigen. Leider –mag es auch kein drängendes Problem sein –kam es in Einzelfällen auch im Geschäftsjahr 2020 zu querulatorischen Verhaltensweisen (so genannte „Corona-Leugnerinnen und Corona-Leugner“ inbegriffen) oder (verbalen) Aggressionen von Verfahrensbeteiligten oder Externer, die die Arbeit aller hier bei Gericht Tätigen nicht unerheblich erschweren. Dies ist indes kein dem Amtsgericht Gießen vorbehaltenes Phänomen, sondern knüpft gerade mit dem ungehemmten „Ausleben“ verbaler Aggression an - bedauerliche - gesamtgesellschaftliche Entwicklungen an.

Zusammengefasst stellt sich die Geschäftsbelastung für die verschiedenen Arbeitsbereiche im Überblick (im Vergleich mit den Vorjahren) wie folgt dar:

Dienstzweig2017
(%)
2018
(%)
2019
(%)
2020
(%)
Richterlicher Dienst97,48103,66104,32103,45
Gehobener Dienst112,29109,58110,07116,00
Mittlerer Dienst und Angestellte116,16114,90119,07111,05

 

4. Ausbildung

Einen großen Stellenwert nimmt am Amtsgericht nach wie vor das Thema „Ausbildung“ ein. Mit insgesamt 74 in Ausbildung befindlichen Personen (alle Ausbildungszweige) gehört das Amtsgericht Gießen zu den größeren Ausbildungsgerichten in Hessen.

Alleine 18 der Auszubildenden wurden im September 2020 eingestellt. Dass die Einstellung auch in „Hochzeiten“ der Pandemie zu bewerkstelligen war, ist dem großen Engagement der Ausbilderinnen und Ausbilder vor Ort und einer funktionierenden, praxiserprobten Anwerbestrategie zu verdanken.

C. Geschäftsentwicklung

1. Geschäftsanfall


Der Geschäftsanfall im Jahre 2020 stellt sich zusammengefasst (im Vergleich der Vorjahre) wie folgt dar:

Organisationseinheit2018 20192020Veränderung
2019/2020 (%)
Zivilsachen, inkl. H-Sachen257024252265-6,60
Familiensachen2975273628233,18
Strafsachen Erwachsene614160375868-2,80
Strafsachen Jugendliche779638522-18,18
OWi-Sachen194627771961-29,38
Grundbuchsachen1697216924172101,69
Nachlasssachen424343584347-0,25
Registersachen2657278228171,26
Betreuungssachen Eingänge1258125013558,40
Betreuungssachen Bestand4055397939990,50
Zwangsvollstreckungssachen677771716815-4,96
Zwangsversteigerungsverfahren7176839,21
Insolvenzverfahren420413303-26,63
davon IN186188158-15,96
davon IK234225145-35,56
Unterbringungssachen64768187228,05

Bei den allgemeinen Zivilsachen setzt sich der Trend der vergangenen Jahre fort. Die Anzahl der Verfahren ist weiter - deutlich - rückläufig. Damit liegt das Amtsgericht Gießen im hessenweiten Trend.

Im Bereich der Familiensachen ist es zu einem leichten Anstieg gegenüber 2019 gekommen. Ein Vergleich mit dem Jahr 2018 zeigt aber auch, dass die Anzahl der Verfahren 2019 sehr gering war und sich jetzt wieder in einem eher durchschnittlichen Bereich bewegt. Inwieweit die Pandemie hier Auswirkungen zeigt, lässt sich derzeit noch nicht verlässlich beurteilen. Hier ist man auf Zahlen der Folgejahre angewiesen, um gegebenenfalls eine diesbezügliche Entwicklung aufzeigen zu können. Stand heute kann gesagt werden: Eine gravierende Zunahme von Kindeswohlgefährdungsverfahren war beim Amtsgericht Gießen nicht zu beobachten. Inwieweit es zu einem Anstieg von Scheidungsverfahren kommt, kann für das Geschäftsjahr 2020 noch nicht beantwortet werden, da diese aufgrund des Erfordernisses des Trennungsjahres nur zeitversetzt sichtbar würden.

Im großen Bereich der Strafabteilung fällt das Bild je nach konkretem Sachgebiet unterschiedlich aus.

Bei den Strafsachen gegen Erwachsene ist ein - unerheblicher - Rückgang von 2,8 % zu verzeichnen.

Dagegen haben die - organisatorisch der Strafabteilung - zugewiesenen Ordnungswidrigkeitsverfahren extrem abgenommen. Ein Rückgang der Verfahren ist ganz besonders bei den Verkehrsordnungswidrigkeiten zu verzeichnen. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Mobilität der Menschen durch die vielen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergriffen wurden, wie Home-Office, Ausgangssperren und sonstige Kontaktbeschränkungen, stark eingeschränkt war.

Sind die Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren demnach stark rückläufig gewesen, rückten ab Herbst 2020 Ordnungswidrigkeitenverfahren in Zusammenhang mit Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in den Vordergrund. Zu nennen sind hier Verstöße gegen die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, Verstöße gegen Kontaktverbote, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Verstöße gegen Ausgangssperren und Verstöße gegen Betriebsbeschränkungsregelungen durch Firmen und Gewerbetreibende. Die Schwierigkeit dieser Verfahren für die Justiz bestand weniger in dem zahlenmäßigen Aufkommen der Verfahren – diese blieben überschaubar. Die Verfahren gestalteten sich vor allem deshalb als schwierig, da sich die geltenden Verordnungen zum Teil wöchentlich änderten und stets genau zu prüfen war, welche Verordnung auf den konkreten Fall in welcher Fassung anzuwenden ist. Die Überlastung der zuständigen Verwaltungsbehörden führte in einigen Fällen zudem dazu, dass der Sachverhalt nicht immer hinreichend aufgeklärt war und nachermittelt werden musste. Vereinzelt kam hinzu, dass es sich bei d. einen oder anderen Betroffenen um eine*n sogenannte*n „Corona-Leugner*in“ (mit mal mehr, mal weniger zur Schau getragener Robustheit im Auftreten) handelte; Verfahren und insbesondere die Verhandlung erschwerte dies im Einzelfall nicht unerheblich.

Stark rückläufig waren Jugendstrafsachen - ein Rückgang um 18,18 %. Ein präziser Grund für den Rückgang lässt sich nicht benennen. Bereits 2019 waren die Jugendstrafsachen in einem ähnlichen Umfang zurückgegangen. Hier wie schon im Rückblick für das Geschäftsjahr 2019 kann indes festgehalten werden: Die Eingänge im Jahr 2018 waren außergewöhnlich hoch, was Rückgänge in den Folgejahren in ihrer Aussagekraft stark relativiert.

Besonders stark zugenommen haben Unterbringungssachen und zwar um 28,05 % gegenüber dem Vorjahr. Auch dies dürfte jedenfalls zum Teil Ausfluss der Corona-Pandemie sein. Viele der getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie führten zu einem starken Rückgang zwischenmenschlicher Kontakte und einer damit einhergehenden (zunehmenden) Vereinsamung - Umstände, die besonders für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder mit der Disposition zu eben solchen schwerer auszuhalten sind. Auch war der Zugang zu vielen unterstützenden und helfenden Einrichtungen für diese Menschen zum Teil erheblich bis gänzlich eingeschränkt, was das Leid zusätzlich erhöht hat.

Ebenfalls zugenommen haben Betreuungssachen, ohne das der Grund der Zunahme verlässlich mit der Pandemie zu verknüpfen wäre. Festzuhalten bleibt aber, dass die eine oder andere Unterbringungssache auch in eine Betreuungssache mündet, wenn dem/der zunächst nur Untergebrachten dauerhaft Unterstützung durch eine/n Betreuer*in anzugedeihen ist. Insoweit liegt ein Zusammenhang der (stark) gestiegenen Unterbringungssachen mit den (nennenswert) gestiegenen Betreuungssachen durchaus nahe.

Sowohl bei den Grundbuch- wie bei den Nachlass- und Registersachen, also „den“ großen im Wesentlichen von Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger bearbeiteten Sachgebieten waren nennenswerte Veränderungen in der Belastung 2020 nicht zu verzeichnen.
Die Zwangsversteigerungssachen, das dritte „große“ Tätigkeitsgebiet der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, verzeichnete eine Zunahme von 9,21 %, ohne dass hierfür ein valider Grund genannt werden könnte. Vergleicht man die Zahl mit dem Geschäftsanfall in den Jahren 2018 und 2019 so fällt auf, dass es nur noch recht wenige Zwangsversteigerungsverfahren gibt, so dass eine Veränderung der absoluten Zahl eine deutliche prozentuale Veränderung zur Folge hat.

Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Insolvenzen im Jahr 2020 sowohl bei den gewerblichen wie bei den Verbraucherinsolvenzen erheblich zurückgegangen. Bei den gewerblichen ist dies eindeutig auf die im Geschäftsjahr 2020 ausgesetzte (strafbewehrte) Insolvenzantragspflicht zurückzuführen. Bei den Verbraucherinsolvenzen (bei denen sich im Jahr 2021 bislang schon ein erheblicher Anstieg vermelden lässt) dürfte die Ursache für die äußerst geringe Anzahl von Anträgen in 2020 (jedenfalls auch) darin zu sehen sein, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher vor Antragstellung das Inkrafttreten eines Insolvenzänderungsgesetzes abgewartet haben. Danach wurde die Wohlverhaltenszeit erheblich verkürzt, von sechs auf drei Jahre. Außerdem waren die Beratungsstellen während der Pandemie für die Ratsuchenden deutlich schwerer erreichbar als sonst. Auch dies mag zu niedrigen Antragszahlen beigetragen haben.

2. Verfahrensdauer

Die Erledigungsdauer im richterlichen Bereich (Zeit zwischen Eingang des Verfahrens bei Gericht und seiner Beendigung durch Richterinnen und Richter) ist beim Amtsgericht Gießen weiterhin erfreulich kurz. Daran hat auch die Pandemie nichts zu ändern vermocht.

Im Überblick stellt sich die Verfahrensdauer wie folgt dar:

Erledigungsdauer in Monaten

Verfahrensart20162017201820192020
Zivilverfahren5,45,45,85,86,0
Strafrichtersachen6,35,76,86,88,4
Schöffengerichtsverfahren7,28,18,39,710,3
Jugendrichtersachen5,35,95,46,87,7
Jugendschöffengericht4,74,24,44,37,3
Bußgeldsachen gegen Erwachsene4,55,13,93,64,4
Familiensachen5,35,95,86,35,5

Die Verfahrensdauer hat danach in allen Bereichen zwar leicht zugenommen. Einzig im Familienbereich hat sich die Verfahrensdauer wieder verkürzt, wobei in diesem Bereich die Verfahrensdauer im Geschäftsjahr 2019 auch eher untypisch lange war (wie ein Vergleich mit den Vorjahren zeigt), so dass sich der aktuelle Rückgang der Verfahrensdauer in seiner Aussagekraft deutlich relativiert.

Gemessen an den Gesamtumständen ist die Zunahme der Verfahrensdauer aber geringfügig. Sie ist in den betroffenen Bereichen maßgeblich damit zu erklären, dass während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 - ab Mitte März 2020 - zur Reduzierung aller vermeidbaren Kontakte viele mündliche Verhandlungen, die nicht eilbedürftig waren, aufgehoben und auf einen späteren Zeitpunkt verlegt wurden. Bereits ab Mitte Mai 2020 wurde indes der reguläre Sitzungsbetrieb weitestgehend wiederaufgenommen. Die Einschränkungen im Sitzungsbetrieb trafen vor allem den Bereich der „normalen“ Strafrichterverfahren (die - anders als Schöffensachen - meistens in kleineren Räumen stattfinden und als Strafsache auf die Durchführung der Hauptverhandlung angewiesen sind). Insoweit ist es konsequent, dass die Zunahme der Verfahrensdauer dort am meisten ausgeprägt ist. Hinzu kam, dass es zu vermehrten Terminsverlegungen (und damit einer Verlängerung der Verfahrensdauer) insbesondere im Bereich der Strafverfahren kam: Dort ist die Anzahl an Verfahrensbeteiligten generell höher ist als in anderen Bereichen, so dass mit höherer Wahrscheinlichkeit Verfahrensbeteiligte oder deren Bevollmächtigte oder Zeuginnen und Zeugen bzw. oder Sachverständige erkrankten und/oder sich in Quarantäne begeben mussten.

Insgesamt kann indes festgehalten werden, dass die Verfahrensdauer beim Amtsgericht Gießen selbst unter diesen außergewöhnlichen Umständen erfreulich kurz sind. „Schnelles Recht“ ist nicht immer „gutes Recht“, aber die Verfahrensdauer ist ein nicht unwesentlicher Indikator für das Funktionieren des Rechtsstaats. Eine angemessen kurze Verfahrensdauer belegt, dass die Richterinnen und Richter hier am Gericht mitsamt den Unterstützungseinheiten tagtäglich bemüht sind, dem verfassungsrechtlich abgesicherten Justizgewährungsanspruch der Bürgerinnen und Bürger „mit Leben zu füllen“ und „praktisch“ zu verwirklichen. Dass es dem Amtsgericht Gießen gelungen ist, die Verfahrensdauer auch in Zeiten der Pandemie stabil auf niedrigem Niveau zu halten, unterstreicht Organisationsstärke des Gerichts und Engagement der Richterinnen und Richter wie der nichtrichterlichen Unterstützungsdienste von den Serviceeinheiten bis zur Wachtmeisterei.

D. Zusammenfassung und Ausblick

Das Amtsgericht Gießen ist gut durch das erste Jahr der Krise gekommen.

Es hat erfolgreich unter Beweis gestellt, dass Funktionsfähigkeit auch in krassen Ausnahmezeiten gewährleistet ist. Möglich war dies nur wegen des herausragenden Engagements aller beim Amtsgericht Gießen Tätigen, sei es im richterlichen Dienst, sei es im nicht-richterlichen Dienst. Dabei ist auch hervorzuheben, dass beim Amtsgericht Gießen in dem schweren ersten Jahr der Pandemie ein nennenswerter Personalausfall weder im richterlichen Bereich, noch im Bereich der Rechtspflegerinnen und Richter, noch in den Unterstützungsdiensten und der Wachtmeisterei zu verzeichnen war.

Dies ist angesichts der enormen Belastungen und - bislang ungeahnten - Anforderungen, die das Geschäftsjahr 2020 an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellte, beileibe keine Selbstverständlichkeit und kann nicht hinreichend genug gewürdigt werden.
Das Amtsgericht Gießen hat sich der Krise gestellt. Es hat im ersten Jahr der Pandemie wertvolle Erfahrungen gemacht, die die Annahme rechtfertigen, dass auch das zweite Geschäftsjahr unter der Pandemie – das Jahr 2021 – erfolgreich durchschritten wird.

Allen beim Amtsgericht Gießen Tätigen sei Dank.

Gießen, 23. August 2021

Meinrad Wösthoff
Präsident des Amtsgerichts

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