Amtsgericht Gießen

Geschäftsentwicklung 2022

Lesedauer:27 Minuten

I. Routinierter Geschäftsbetrieb

Das Amtsgericht Gießen hat seinen Geschäftsbetrieb im Jahr 2022 - bei „auslaufenden“ Pandemiebedingungen - routiniert fortgesetzt.

Das Geschäftsjahr 2022 war neben dem Ausklingen der Pandemie weitgehend bestimmt durch rechtspolitische Debatten, wie die Nachwuchsgewinnung in der und für die Justiz erfolgreich gestaltet werden kann.

Konsens war, dass die Justiz die konkreten Arbeitsbedingungen künftig so ausgestaltet und sichert, dass sie als Tätigkeitsfeld attraktiv ist und bleibt. Die Verteidigung des Rechtsstaats wird nur gelingen, wenn hinreichend motivierte Kräfte sich tagtäglich für diesen einsetzen. Dabei geht es nicht nur darum, die „Wettbewerbsbedingungen“ gegenüber anderen Arbeitgebern zu stärken, sondern auch und gerade darum, das Maß an gesellschaftlicher Verantwortung deutlich zu machen, welches mit einem Eintritt in den Justizdienst, gleich in welcher Verwendung, verbunden ist. Insoweit griff die Debatte an der einen oder anderen Stelle deutlich zu kurz, wenn sie auf eine reine Diskussion um bessere Entlohnung bzw. bessere Besoldung verknappt wurde.

Nicht minder maßgeblich bleibt die Steigerung der Attraktivität durch eine Verbesserung der konkreten Arbeitsbedingungen. Neben flexiblen Arbeitszeitmodellen und der so genannten Digitalisierung des Arbeitsplatzes – mit der im Wesentlichen eine Steigerung der Mobilität des Arbeitens und eine geringere Abhängigkeit von „Papierakten“ gemeint ist – bleiben insbesondere ein attraktives Fortbildungsprogramm und eine kollegiale Arbeitsatmosphäre ganz entscheidend.

Beim Amtsgericht Gießen wird die fortschreitende Digitalisierung nicht zuletzt greifbar, wenn im Herbst 2023 weitere Schritte zur Einführung der elektronischen Akte folgen. Diese wird zunächst pilotiert in den Bereichen Insolvenzabteilung und Zivilprozess, bevor – Stand jetzt – im Frühjahr 2024 der große Bereich des familiengerichtlichen Verfahrens folgt. Erfolgsentscheidend bleibt hier, dass die Anwenderinnen und Anwender im besten Sinne „mitgenommen“ werden und die Pilotierung so umgesetzt wird, dass sich der Ablauf möglichst reibungslos und ohne Einschränkungen der täglichen Arbeit umsetzen lässt.

Die maßgebliche kollegiale Arbeitsatmosphäre wird vor Ort gelebt durch eine gelungene Einarbeitung durch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die den Namen auch verdienen. Neuankömmlingen beim Amtsgericht Gießen stehen sowohl im richterlichen wie im nicht-richterlichen Bereich Mentorinnen und Mentoren zur Verfügung, die anleiten wollen - und anleiten können. Dabei kommt dem Amtsgericht Gießen insbesondere im nicht-richterlichen Bereich die große Erfahrung als Ausbildungsgericht zugute: Eine Vielzahl der hier Bediensteten ist in den klassischen Ausbildungsbereich einbezogen und weiß damit die Einarbeitung von Neuankömmlingen in höchsten Maße professionell und erfolgreich umzusetzen.

II. Personalentwicklung

1. Personalbestand

Die Personalsituation hat sich im Vergleich zum Vorjahr als im Wesentlichen konstant erwiesen.

Bei den Beamtinnen und Beamten des mittleren Dienstes und der Angestellten war 2022 ein Zugang von 5 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verzeichnen, die jedenfalls im Geschäftsjahr 2022 auftretende größere Lücken einigermaßen zu schließen vermochten.

Im Einzelnen stellte sich die Personalsituation im Jahr 2022 (mit einem Vergleich der Vorjahre) wie folgt dar:

Kopfzahlen

Dienstzweig Stand 31.12.2020 Stand 31.12.2021 Stand 31.12.22
Richterinnen / Richter 30 29 29 (20 wbl.)
Beamtinnen / Beamte höherer Dienst 1 1 1 (1 wbl.)
Rechtspflegerinnen / Rechtspfleger 36 38 38 (23 wbl.)
Beamtinnen / Beamte mittlerer Dienst, Angestellte im Übrigen 108 102 107 (100 wbl.)
Gerichtsvollzieherinnen / Gerichtsvollzieher 11 11 11 (6 wbl.)
Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter in Ausbildung 74 75 75 (62 wbl.)
Wachtmeister 11 10 10 (3 wbl.)

 

Arbeitskraftanteile

Dienstzweig Stand 31.12.2020 Stand 31.12.2021 Stand 31.12.22
Richterinnen / Richter 27,00 27,25 26,75 (17,75 wbl.)
Beamtinnen / Beamte höherer Dienst 1,00 1,00 1,00 (1,00 wbl.)
Rechtspflegerinnen / Rechtspfleger 33,05 34,65 34,63(19,63 wbl.)
Beamtinnen / Beamte mittlerer Dienst, Angestellte im Übrigen 94,06 88,00 93,21 (86,21 wbl.)
Gerichtsvollzieherinnen / Gerichtsvollzieher 11,75 11,00 11,00 (6,00 wbl.)
Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter in Ausbildung 74,00 75,00 75,00 (62,00 wbl.)
Wachtmeister 11,00 9,98 10,00 (3,00 wbl.)

Wie schon für die Vorjahre festgestellt, ist das Amtsgericht Gießen“ weiblich“ und Vorbild in Sachen Frauenförderung und Gleichberechtigung. Der Anteil der hier Beschäftigten an Frauen lag im Jahr 2022 bei knapp 80 %. Dabei ist der Anteil im richterlichen Bereich gegenüber dem Vorjahr (65,52 %) im abgelaufenen Geschäftsjahr 2022 noch einmal gestiegen, und zwar auf knapp 70 % (68,97 %).

Bemerkenswert ist, dass ein Zuwachs des Frauenanteils auch in dem bislang traditionell als „Männerdomäne“ verbuchten Bereich der Wachtmeisterei zu verzeichnen ist: Hier stieg der Frauenanteil im abgelaufenen Geschäftsjahr von 20% auf 30%.

Der Frauenanteil zum 31.12.2022 auf einen Blick:

Dienstzweig

Kopfzahl
%

Arbeitskraft
%

Richterinnen

68,97

66,36

Beamtinnen höherer Dienst

100,00

100,00

Beamtinnen gehobener Dienst

60,53

56,68

Mittlerer Dienst und Angestellte insgesamt

93,45

92,49

Davon Beamtinnen mittlerer Dienst

92,00

91,31

Davon Angestellte

93,90

92,90

Gerichtsvollzieherinnen

54,55

54,55

Mitarbeiterinnen in Ausbildung

82,66

92,66

Wachtmeisterinnen

30,00

30,00

 

2. Personalveränderungen

Die Personalsituation im richterlichen Bereich war im Geschäftsjahr 2022 von Konstanz geprägt.

Eine nennenswerte Veränderung gab es in der Behördenleitung. Die im Herbst 2022 erfolgte Abordnung eine der beiden weiteren aufsichtführenden Richterinnen an die Hessische IT-Stelle in Bad Vilbel konnte durch Neuverteilung der Verwaltungsaufgaben innerhalb des Gerichts erfolgreich aufgefangen werden.

Bei den am Amtsgericht Gießen eingesetzten Proberichterinnen und Proberichtern ergab sich folgendes Bild: Zum 31.12.2022 verrichteten insgesamt fünf Richterinnen und Richter auf Probe, davon vier Frauen, ihren Dienst am Amtsgericht Gießen. Der Proberichteranteil ist damit gegenüber dem Vorjahr von ehedem sechs Proberichterinnen und Proberichtern auf fünf gesunken. Dabei wurden zwei der ehemaligen Proberichterinnen und Proberichter im Geschäftsjahr 2022 zu Richtern auf Lebenszeit beim Amtsgericht Gießen ernannt. Damit konnte das Amtsgericht Gießen neuerlich die nachhaltig positive Entwicklung der vergangenen Jahre fortschreiben und hier zugewiesene Proberichterinnen und Proberichter erfolgreich einarbeiten, um sie als Lebenszeitkräfte für eine Tätigkeit beim Amtsgericht Gießen zu gewinnen. Das Amtsgericht Gießen hat 2022 damit wieder unter Beweis gestellt, dass es für Richterinnen und Richter ein äußerst attraktiver Dienststandort ist.

3. Personalausstattung

Die personelle Ausstattung hat sich im Vergleich zu den Vorjahren weiter verbessert. Sie kann insgesamt als auskömmlich bezeichnet werden - bei vereinzelten Belastungsspitzen.

Bei den Angestellten und Beamtinnen und Beamten des mittleren Dienstes ist die durchschnittliche Belastung 2022 von 108,60 % auf 105,23 % leicht gesunken, sie liegt damit noch 5,23 % Punkte über dem Durchschnittswert von 100 %. Im gehobenen Dienst, der den Bereich der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger markiert, ist ebenfalls eine leichte Verbesserung zu verzeichnen: Lag die Belastung 2021 noch bei 109,39 %, belief sie sich im abgelaufenen Geschäftsjahr 2022 auf 106,50 %.

Im richterlichen Bereich betrug die Belastung 97,99 % und lag damit leicht unter dem „Sollwert“ von 100 %.

Zusammenfassend stellt sich die Geschäftsbelastung im Vergleich zu den Vorjahren wie folgt dar (wobei 100 % der „Sollwert“ ist):

Dienstzweig

2019
%

2020
%

2021
%

2022
%

Richterinnen / Richter

103,79

103,37

100,07

97,99

Beamtinnen / Beamte gehobener Dienst

109,85

115,38

109,39

106,50

Beamtinnen / Beamte mittlerer Dienst, Angestellte

117,45

109,42

108,60

105,23

 

4. Ausbildung: Nachwuchsgewinnung und „Tag des Rechtsstaats“

Die Ausbildung nahm beim Amtsgericht Gießen auch im Geschäftsjahr 2022 eine zentrale Bedeutung ein.

Die Ausbildung junger Menschen zur/zum Justizfachangestellten beim Amtsgericht Gießen sichert die Funktionsfähigkeit der Justiz und macht diese zukunftsfest. Justizfachangestellte sichern ein Arbeitsumfeld, das den Entscheidern- Richterinnen und Richtern wie Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern - verlässliches und zügiges Entscheiden ermöglicht. Sie sind damit das Fundament dafür, dass der Justizgewährungsanspruch der Bürgerinnen und Bürger erfüllt wird.

Die 3-jährige Ausbildung ist anspruchsvoll und wird beim Amtsgericht Gießen durch hauptamtliche Ausbilderinnen und Ausbilder durchgeführt. Der Berufsschulunterricht wird - in bewährter und seit langen Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit - durch Lehrkräfte der Max-Weber-Schule in Gießen an zwei Tagen in der Woche durchgeführt.

Am Ende der Ausbildung stehen junge Menschen, die als Absolventinnen und Absolventen des Fachlehrgangs „Justizfachangestellte/r“ in jedem Sachgebiet beim Amtsgericht Gießen, aber auch bei allen anderen Justizstandorten hessenweit einsetzbar sind, namentlich auf den so wichtigen Geschäftsstellen und Serviceeinheiten der jeweiligen Sachgebiete (Strafrecht, Familienrecht, Zivilprozess, Betreuung, Registergericht etc.).

Angesichts der hohen Bedeutung der Ausbildung und des Amtsgerichts Gießen als Ausbildungsgericht kann erfreulicherweise festgehalten werden: Durch die Pandemie hindurch hat das Amtsgericht Gießen die Ausbildung jederzeit sichergestellt und erreicht, dass in den Jahren 2020 bis 2022 jeder der drei Ausbildungsjahrgänge voll besetzt werden konnte.

Besonders erfreulich ist, dass der Ausbildungsjahrgang 2020, der bei Hereinbrechen der Pandemie unter besonders schwierigen Umständen die Ausbildung absolvieren musste, heuer erfolgreich die Ausbildung beenden konnte. Im Rahmen einer Feierstunde im Amtsgericht Gießen am vergangenen Donnerstag, dem 20. Juli 2023, wurden alle Absolventinnen und Absolventen des Ausbildungsjahrgangs 2020 verabschiedet. Von den ehemals 18 Prüflingen haben alle die Prüfung zum/zur Justizfachangestellten bestanden, 6 von 18 Prüflingen konnten ihre Prüfung sogar vorziehen und zu einem früheren Zeitpunkt erfolgreich absolvieren.

Für das Amtsgericht Gießen besonders erfreulich ist, dass insgesamt 10 Absolventinnen künftig beim Amtsgericht Gießen eingesetzt werden. Sechs weitere Absolventinnen werden an anderen Justizstandorten in Hessen eingesetzt und bleiben mit Einsätzen etwa beim Amtsgericht Friedberg, dem Amtsgericht Wetzlar, dem Amtsgericht Frankfurt und dem Oberlandesgericht Frankfurt als verlässliche, gut ausgebildete Kräfte der hessischen Justiz erhalten.

Die hohe Qualität der Ausbildung beim Amtsgericht Gießen in bewährter Zusammenarbeit mit den höchst engagierten Lehrkräften der Max-Weber-Schule sichert Nachwuchs in und für die Justiz und macht diese im besten Sinne zukunftsfest.

Damit hat das Amtsgericht Gießen neuerlich unter Beweis gestellt, dass es den nötigen Nachwuchs selbst erfolgreich zu rekrutieren und mit weiteren hier ausgebildeten Absolventinnen und Absolventen andere Bereiche der hessischen Justiz nachhaltig zu verstärken weiß. Das Engagement erfahrener Ausbilderinnen und Ausbilder beim Amtsgericht Gießen hat sich - wieder einmal - bewährt. Erfreulicherweise haben alle Absolventinnen und Absolventen im Rahmen der Feierstunde das positive, kollegiale Betriebsklima beim Amtsgericht Gießen hervorgehoben. Dieses ist und bleibt zentrales Merkmal für die Attraktivität des Standortes.

Dass vor der Rekrutierung gleichsam nach der Rekrutierung ist, hat das Amtsgericht Gießen mehr als verinnerlicht.

So war das Amtsgericht Gießen maßgeblich an der vom Hessischen Ministerium der Justiz initiierten Reihe „Tag des Rechtsstaats“ beteiligt. Insbesondere dank des Engagements der hier tätigen Ausbilderinnen und Ausbilder sowie der Auszubildenden selbst bot das Amtsgericht Gießen am „Tag des Rechtsstaats“ am 15. Juni 2023 ganztägig ein umfangreiches Programm, das interessierten Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassenstufe einen Einblick in den Justizalltag „von innen“ gab. Über 100 Schülerinnen und Schülern folgten der Einladung zu diesem „Tag des Rechtsstaats“, der weit über die Stadtgrenzen hinaus mediales Echo und große Anerkennung fand und bei dem sich sämtliche Berufsgruppen der Justiz den Fragen der Schülerinnen und Schülern stellten.

Aus den Rückmeldungen der beteiligten Schulen wurde deutlich: Es ist wichtig, dass Justiz nah an den Menschen ist, sich nicht „verschanzt“ und nicht verlernt, ihre vielfältigen Tätigkeitsfelder, ihre Arbeitsweise und ihre Entscheidungsprozesse Bürgerinnen und Bürgern im besten Sinne nahe zu bringen und insbesondere junge Menschen für die Arbeit in der Justiz zu begeistern.

Die Verantwortung für den Rechtsstaat lebt von Menschen, die eben diesen leben und sich in ihm engagieren. Den Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler auf den Tag des Rechtsstaats beim Amtsgericht Gießen war jedenfalls zu entnehmen, dass sie wertvolle Einblicke in das tagtägliche Funktionieren des Rechtsstaats beim Amtsgericht Gießen gewonnen haben. Sollten die Schülerinnen und Schüler ihre Erlebnisse an diesem Tag mit bei der künftig anstehenden Berufswahl berücksichtigen und einen Einstieg in die Justiz erwägen, so wäre nicht nur für das Amtsgericht Gießen, sondern auch für die Justiz selbst „viel gewonnen“.

III. Geschäftsentwicklung

1. Geschäftsanfall

Der Geschäftsanfall im Jahre 2022 stellt sich zusammengefasst (im Vergleich der Vorjahre) wie folgt dar:

Eingangszahlen

2019

2020

2021

2022

Veränderung
2021/2022
%

Zivilsachen

2425

2265

2207

1962

-11,10

Familiensachen

2736

2823

2550

2618

2,67

Strafsachen Erwachsene

6037

5868

5889

5782

-1,82

Strafsachen Jugendliche

638

522

413

380

-7,99

Ordnungswidrigkeiten-Sachen

2777

1961

1427

1094

-23,34

Grundbuchsachen

16924

17210

16624

15841

-4,71

Nachlasssachen

4358

4347

4826

4709

-2,42

Registersachen

2782

2817

2907

2964

1,96

Betreuungssachen Eingänge

1250

1355

1463

1302

-11,00

Betreuungssachen Bestand

3979

3999

4085

4090

0,12

Zwangsvollstreckungssachen

7171

6815

6191

5919

-4,39

Zwangsversteigerungsverfahren

76

83

70

85

21,43

Insolvenzverfahren gesamt

413

303

492

517

5,08

Davon: Verbraucherinsolvenzen

188

158

179

186

3,91

Davon: Unternehmensinsolvenzen

225

145

313

331

5,75

Unterbringungssachen

681

872

844

823

-2,49

Bei den Zivilsachen setzt sich der Trend der vergangenen Jahre deutlich fort. Die Anzahl der Verfahren ist weiter rückläufig. Damit liegt das Amtsgericht Gießen im hessenweiten Trend.

Abzuwarten bleibt, ob sich eine aktuelle rechtspolitische Debatte in naher Zukunft in Gesetzesform niederschlägt: Die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister hat den Bundesminister für Justiz aufgefordert, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der die Zuständigkeitsgrenze der Amtsgerichte von derzeit 5.000,00 € auf künftig 8.000,00 € erhöht. Amtsgerichte wären danach für alle Klagen zuständig, bei denen die klagende Partei Anträge bis zum Wert von einschließlich 8.000,00 € verfolgt. Dass dies zu einer (derzeit nicht absehbaren) Steigerung des Geschäftsanfalls der Amtsgerichte führen wird, darf als ausgemacht gelten. Nicht auszuschließen ist weiter, dass sich die Arbeitslast der Amtsgerichte auch dank einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu den so genannten „Diesel-Verfahren“ erhöht: Der Bundesgerichtshof hat – kurz gesagt – den Umfang potentieller Schadensersatzansprüche von Kundinnen und Kunden manipulierter Dieselfahrzeuge „beziffert“ und die potentiellen Schadensersatzansprüche dabei in einem Umfang für möglich gehalten, der innerhalb der aktuellen Zuständigkeitsgrenze der Amtsgerichte und damit bis einschließlich 5.000,00 € liegt.

Sicher ist: Die Geschäftsentwicklung bleibt abzuwarten. Allerdings: Es muss in jedem Fall darauf geachtet werden, dass die Arbeitsbelastung der Amtsgerichte noch „gestemmt“ werden kann. Einer etwa eintretenden erheblichen Erhöhung der Eingangszahlen muss mit einer Erhöhung der Anzahl der Richterinnen und Richter sowie der nachgeordneten Dienste (Geschäftsstellen, Rechtspfleger/innen) Rechnung getragen werden.

Im Bereich der Familiensachen ist es zu einer leichten Erhöhung der Neueingänge gekommen. Greifbare Gründe hierfür gibt es nicht.

Im Bereich der Strafrechtspflege ist der Geschäftsanfall bei den Strafsachen gegen Erwachsene weitgehend konstant. Die Zahlen beziehen sich sowohl auf die Verfahren, die vor dem Einzelstrafrichter angeklagt werden, wie auch auf die Verfahren, für die die Schöffengerichte gegen Erwachsene zuständig sind. Die Zahlen sind hier nicht getrennt rekonstruierbar. Der zu verzeichnende nur geringe Rückgang des Geschäftsanfalls von 1,82 % liegt innerhalb statistischer Streubreite.

Erhebliche Rückgänge sind zu verzeichnen bei den Strafsachen gegen Jugendliche sowie bei den Ordnungswidrigkeitensachen. Konkrete Gründe für den nicht unerheblichen Rückgang bei den Eingangszahlen bei Strafverfahren gegen Jugendliche (Rückgang um 7,99 %) lassen sich indes nicht benennen. Gleiches gilt für den ganz erheblichen Rückgang an Ordnungswidrigkeitensachen von nahezu einem Viertel gegenüber dem Vorjahr (-23,34 %).

Generell lässt sich für den Bereich der Strafrechtspflege sagen, dass der Geschäftsanfall bei Gericht maßgeblich abhängig ist von der Anzahl an Verfahren, die die Staatsanwaltschaft an die Amtsgerichte „weiterleitet“. Die Ursachenforschung im Bereich der Strafrechtspflege (im Geschäftsjahr 2022 maßgeblich der Rückgang an Strafsachen gegen Jugendliche - Jugendrichter wie Jugendschöffengericht - sowie an Ordnungswidrigkeitenverfahren) betrifft insoweit maßgeblich einen Bereich, der dem Gericht verborgen ist und bleibt: die in den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaften fallende Ermittlungs- und Anklagetätigkeit.

Bei den Betreuungssachen war 2022 ein gegenüber dem Vorjahr erheblicher Rückgang an Verfahren zu verzeichnen. Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, dass 2021 der Zuwachs an Betreuungsverfahren – 7,97 % gegenüber dem Vorjahr – ganz erheblich war, ohne dass ein Grund hierfür benannt werden konnte. Insoweit hat sich der Geschäftsanfall im Jahre 2022 wohl lediglich wieder „normalisiert“. Er bewegt sich wieder im Rahmen der Jahre vor 2021.

Gleiches gilt für die Registersachen (Grundbuch, Nachlass und Handelsregister), also den großen, im Wesentlichen von Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern bearbeiteten Sachgebieten. Die noch für das Jahr 2021 zu konstatierende starke Zunahme an Nachlasssachen hat sich im Jahr 2022 wieder entschärft: Die Eingangszahlen dort sind wieder leicht gesunken. Insgesamt bewegen sich die Zahlen in den Registersachen im Rahmen üblicher statistischer „Streubreite“.

In der Zwangsvollstreckung bietet sich ein gegenläufiges Bild.

Einem Rückgang der Zwangsvollstreckungssachen (das ist die Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen, also klassischerweise in Geldkonten und in bewegliche Vermögensgegenstände) steht eine nicht unerhebliche Erhöhung des Geschäftsanfalls in Zwangsversteigerungssachen (das ist die Zwangsvollstreckung in Grundstücke) gegenüber. Konkrete Gründe hierfür lassen sich nicht verlässlich ausmachen. Dass die Zunahme der Zwangsversteigerungssachen auf Auswirkungen der Pandemie (Zunahme der Beschäftigungslosigkeit und Einbrüche in den Einkommensverhältnissen) bei fremdfinanzierten Wohnungseigentum zurückzuführen ist, mag zwar naheliegen, lässt sich aber nicht hinreichend verlässlich begründen. Dies liegt maßgeblich daran, dass den Amtsgerichten der konkrete Grund für die Zwangsversteigerungen - d.h. meist die konkrete Ursache für die fehlende Tilgung von Bankdarlehen zur Finanzierung von Wohneigentum) regelmäßig nicht bekannt wird.

Auf dem Gebiet der Insolvenzen ist das Bild weitgehend unauffällig.

Der Anstieg bei den Unternehmensinsolvenzen von 3,91 % gestaltet sich übersichtlich. Gleiches gilt für den Bereich der Zunahme der Verbraucherinsolvenzen von 5,75 %. Damit lässt sich jedenfalls festhalten, dass die in der Vergangenheit wiederkehrend geäußerten, landläufigen Befürchtungen eines nennenswerten Anstiegs der Insolvenzen im Zuge der Pandemie sich nicht in Zahlen niederschlagen. Damit wird auch wieder eines deutlich: Gerade im Bereich der Geschäftsanfälle der Gerichte lassen sich Prognosen nur mit höchster Vorsicht erstellen.

2. Verfahrensdauer

Die Verfahrensdauer im richterlichen Bereich - das ist die Zeit zwischen Eingang des Verfahrens bei Gericht und seiner richterlichen Erledigung - ist beim Amtsgericht Gießen durchschnittlich auch im abgelaufenen Geschäftsjahr 2022 erfreulich kurz. Sie beträgt für die einzelnen Sachgebiete:

Verfahrensart

2018

2019

2020

2021

2022

Zivilverfahren

5,8

5,8

6,0

6,1

6,2

Strafrichtersachen Erwachsene

6,8

6,8

8,4

7,4

8,3

Schöffengerichtsverfahren Erwachsene

8,3

9,7

10,3

7,9

11,4

Jugendrichtersachen

5,4

6,8

7,7

8,2

8

Jugendschöffengericht

4,4

4,3

7,3

4,6

4,2

Bußgeldsachen gegen Erwachsene

3,9

3,6

4,4

4,2

3,8

Familiensachen

5,8

6,3

5,5

6,4

6,3

Für die Strafverfahren gegen Erwachsene sei angemerkt, dass das Geschäftsjahr 2022 eine Entwicklung fortschreibt, die von zunehmender Schwierigkeit und Komplexität der Strafverfahren gekennzeichnet ist. Dies betrifft sowohl die „normalen“ Strafsachen gegen Erwachsene, die vor dem Einzelrichter geführt werden, wie auch die Verfahren vor dem mit einem Berufsrichter und zwei Laienrichtern besetzten Schöffengericht.

Insbesondere bei den Schöffenverfahren nehmen Verfahren gegen mehrere Angeklagte zu und ist zu beobachten, dass der Umfang der Verfahren, insbesondere bei Vermögensdelikten, stetig steigt. Keine Seltenheit mehr sind Anklageschriften, die eine Vielzahl von Einzeltaten im zweistelligen Bereich auflisten und bisweilen auch Taten bis in den dreistelligen Bereich hinein enthalten, die sämtlich einer verlässlichen Klärung zuzuführen sind.

Weiter ist zu beobachten, dass insbesondere Sexualstrafverfahren vor dem Schöffengericht zunehmende Komplexität aufweisen und in der Regel eine Anzahl an Hauptverhandlungsterminen erfordern, die den Normalfall des schöffengerichtlichen Verfahrens schlicht „sprengt“.

Des Weiteren sind die Erwachsenen-Schöffengerichte auch im abgelaufenen Geschäftsjahr mit einer Vielzahl an Haftsachen beschäftigt gewesen, die aus guten, verfassungsrechtlichen Gründen vorrangig und mit besonderer Eile zu behandeln sind. Dabei liegt auf der Hand, dass dies zu Lasten der Verfahrensdauer anderer schöffengerichtlicher Verfahren gehen kann - und bei der Vielzahl der hier verhandelten Haftsachen auch tatsächlich geht. An dieser Stelle darf hervorgehoben werden, dass im Geschäftsjahr 2022 - wie in den Jahren zuvor - nicht ein einziger Haftbefehl in einer der zahlreichen schöffengerichtlichen Haftsachen bei dem Amtsgericht Gießen durch das Oberlandesgericht aufgehoben wurde; in sämtlichen Haftsachen wurde dem Beschleunigungsgebot Genüge getan.

Nicht zuletzt hat sich der Arbeitsumfang der Schöffengerichte auch dadurch erhöht, dass nach der gesetzlichen Einstufung des Besitzes kinderpornographischen Materials als Verbrechen diese Verfahren nunmehr bei den Amtsgerichten ausschließlich vor dem Schöffengericht zu verhandeln sind. Dass diese Verfahren ebenfalls von besonderer Schwierigkeit und Komplexität sind, erschließt sich bei dem Tatvorwurf ohne weiteres – und es gilt umso mehr, als der Gesetzgeber die Mindeststrafe von einem Jahr hier als echtes „Minimum“ ausgestaltet hat und davon abgesehen hat, eine Form von „minderschwerem“ Fall einzuführen.

IV. Zusammenfassung und Ausblick

Das Amtsgericht Gießen hat im abgelaufenen Geschäftsjahr nach erfolgreichem Durchschreiten der „tiefsten Täler der Pandemie“ den Geschäftsbetrieb wieder in den routinierten „Normalbetrieb“ überführen können. Die statistischen Daten sind weitgehend unauffällig und belegen ein in jeder Hinsicht funktionstüchtiges, leistungsstarkes Amtsgericht mit kurzen Verfahrensdauern in allen Sachgebieten.

Von zentraler Bedeutung bleibt die Gewinnung tatkräftigen Nachwuchses für die Justiz und insbesondere für den Justizstandort Gießen. Das Amtsgericht Gießen ist – wie alle Funktionseinheiten innerhalb der hessischen Justiz – darauf angewiesen, leistungsbereiten und leistungsstarken jungen Menschen ein überzeugendes Angebot für eine attraktive Tätigkeit mit hoher gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu unterbreiten.

Dabei werden Bezahlung, flexible Arbeitszeitmodelle, eine moderne und zeitgemäße (auch digitale) Ausstattung des Arbeitsplatzes wie auch – und das bleibt bei aller Digitalisierung zentral – ein vorzügliches Betriebsklima die maßgeblichen Faktoren sein.

Der Rechtsstaat wird sich gegen – sichtbar wachsende – Kräfte von links und rechts, die seine Existenz und Sinnhaftigkeit in Frage stellen, nur verteidigen lassen, wenn vor allem die am Gericht Tätigen ihre Verantwortung für die Durchsetzung des Rechtsstaats tagtäglich nicht nur mit vollem Einsatz, sondern auch mit voller Überzeugung „leben“.

Der Rechtsstaat ist und bleibt das höchste Gut. Er garantiert Gerechtigkeit, indem Gerichte tagaus tagein den Bürgerinnen und Bürgern das Versprechen erfüllen, sich im konkreten Fall auf die Justiz verlassen zu können. Das hohe Arbeitsethos aller am Gericht Tätigen und ihre tagtägliche Freude an der Arbeit im Wissen, dass der Justizgewährungsanspruch der Bürgerinnen und Bürger zentral für den Rechtsstaat ist, sichern die Zukunftsfähigkeit der Justiz. „Verantwortung tragen“ ist hier keine Leerformel. Der Einsatz aller beim Amtsgericht Gießen tätigen Menschen einschließlich der Gremien „lebt“ die hohe Verantwortung für den Rechtsstaat und schafft ein hervorragendes Betriebsklima, das im besten Sinne „Zukunft sichert“ und den Einsatz für den Rechtsstaat weiter erstrebenswert werden lässt.

Dabei wird - jenseits aller dringend notwendigen „Digitalisierung“ - weiter der persönliche Kontakt mit und zu den Rechtsschutzsuchenden sowie der persönliche Kontakt innerhalb des Gerichts ganz zentral bleiben.

Denn wenn uns die Pandemie etwas gelehrt hat, dann doch, dass wir den persönlichen Kontakt, das direkte, offene Wort und den lebendigen, unvermittelten Austausch wieder ganz neu schätzen gelernt haben. Und sie hat uns - in der zunehmenden Vereinzelung und Vereinsamung auch und gerade im Arbeitsalltag - nicht zuletzt und oft schmerzlich daran erinnert, dass „Zusammenarbeit“ von „zusammen Arbeiten“ kommt.

Abschließend bleibt mir, allen Bediensteten am Amtsgericht Gießen und den Gremien für dieses „zusammen Arbeiten“ und für den herausragenden Einsatz für den Rechtsstaat im Geschäftsjahr 2022 aufrichtig zu danken.

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