Nr.38/2025
Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn das vorausfahrende Fahrzeug im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abbricht, wieder vor dem auffahrenden Fahrzeug einschert und dort sein Fahrzeug zum Stillstand abbremst. In dieser Situation ist eine Haftungsverteilung von 50% zu 50% gerechtfertigt, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit heute veröffentlichter Entscheidung.
Der Fahrer eines bei der Klägerin versicherten Ford Ranger befuhr im Sommer 2021 zunächst den linken von drei Fahrspuren der BAB 45. Aufgrund einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf zwei Fahrspuren. Der Fahrer begann, auf den mittleren Streifen zu wechseln. Wegen des dortigen Verkehrsaufkommens fuhr er, nachdem er ca. zur Hälfte auf der mittleren Fahrspur angelangt war, ebenso wie das vorausfahrende Fahrzeug wieder auf die linke Spur. Auf der linken Spur bremste das vorausfahrende Fahrzeug bis zum Stillstand ab. Der Fahrer des Ford bremste ebenfalls für max. 1 Sekunde bis zum Stillstand ab. Der hinter dem Ford auf der linken Spur befindliche Beklagte kollidierte mit dem klägerischen Fahrzeug. Der Schaden am klägerischen Schaden beläuft sich auf knapp 60.000,00 €.
Das Landgericht hatte der Klage auf Basis einer Haftung von 80% stattgegeben. Die hiergegen eingelegte Berufung führte zu einer Haftungsquote des Beklagten von 50%.
Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden geltende Anscheinsbeweis greife vorliegend nicht ein, begründete der zuständige 9. Zivilsenat die Entscheidung. Sowohl die unklare Verkehrslage als auch der atypische Geschehensablauf stünden dem Anscheinsbeweis entgegen. Zudem spreche gegen den Anscheinsbeweis, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abgebrochen habe. Der Fahrer des Ford habe selbst bekundet, das Beklagtenfahrzeug auf der linken Spur nicht gesehen zu haben. Dies spreche dagegen, dass er sich vor dem von der Klägerin als „Schlenker“ bezeichneten Manöver durch Rückschau über den rückwärtigen Verkehr auf der linken Spur versichert habe. Weder vorgetragen noch ersichtlich sei zudem, dass der Fahrer des Ford vor dem Einscheren auf die linke Spur geblinkt und so für den nachfolgenden Verkehr den Abbruch des zunächst begonnenen Fahrstreifenwechsels angezeigt habe. „Der zeitliche und örtliche Zusammenhang mit dem gescheiterten Fahrspurwechsel liegt ersichtlich noch vor und wurde durch den kurzzeitigen Stillstand des Fahrzeugs von einer halben bis maximal einer Sekunde nicht aufgehoben“, führte der Senat weiter aus.
Gegen ein alleiniges Verschulden des Fahrers des Fords spreche allerdings die vom Landgericht zutreffend angenommene unklare Verkehrslage im Hinblick auf das Enden der vom Beklagten benutzten Fahrspur sowie des starken Verkehrsaufkommens, bei dem auch „mit dem abrupten Abbremsen vorausfahrender oder die Spur wechselnder Fahrzeuge jederzeit zu rechnen“ gewesen sei, erläuterte der Senat die vorgenommene Haftungsverteilung von 50% zu 50%.
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Zulassung der Revision begehrt werden.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 29.4.2025, Az. 9 U 5/24
(vorausgehend Landgericht Gießen, Urteil vom 27.11.2023, Az. 9 O 275/23
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