Nr. 73/2024
„Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ist gerade in Zeiten äußerer Krisen und Instabilität für die Bürger und die Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Während die beiden anderen Staatsgewalten oft schnellen politischen Veränderungsprozessen unterworfen sind, strahlt die Rechtsprechung als dritte Säule des Rechtsstaats regelmäßig große Stabilität aus. Ich freue mich, dass sich auch im Jahr 2024 alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am OLG mit hohem Engagement für den Erhalt unseres Rechtsstaates eingesetzt haben“, leitete der Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Seitz heute den traditionellen Rück- und Ausblick zwischen den Jahren ein. „Die Herausforderungen des vergangenen Jahres waren vielfältig. Neben dem Tagesgeschäft in den Bereichen der Rechtsprechung und Verwaltung dauert die Umstellung auf digitale Akten an. Sie stellt sicherlich den größten Veränderungsprozess am justiziellen Arbeitsplatz in den letzten Jahrzehnten dar. Daneben ist der umfangreiche Umbau des Justizstandortes, der u.a. unmittelbar neben dem Haupthaus des OLG erfolgt, täglich spürbar“.
Die Entwicklung der statistischen Zahlen im Rechtsprechungsbereich ist erfreulich. „Der deutliche Stellenzuwachs in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass die Belastung nach vielen Jahren der deutlichen Überlast im Jahr 2024 im Schnitt auf ein Normalmaß zurückgeführt werden konnte“, erläuterte Präsident Dr. Seitz.
So stieg die Zahl der erledigten zivilrechtlichen Berufungen 2024 leicht an (2023: 5.436; hochgerechnet 2024: 5.609). Die Zahl der Neueingänge ging im Jahr 2024 erneut zurück (2023: 4.805; hochgerechnet 2024: 4032). Die durchschnittliche Verfahrensdauer verlängerte sich leicht (2023: 12,6 Monate; 2024 hochgerechnet; 17 Monate).
Die Neueingänge im Bereich der strafrechtlichen Revisionen sowie die Erledigungen entsprachen in etwa denen aus dem Jahr 2023 (Eingänge 2023: 255; hochgerechnet 2024: 254; Erledigungen: 2023: 260, 2024: 245) bei einer Verkürzung der durchschnittlichen Verfahrensdauer (2023: 3,4 Monate; 2024 hochgerechnet 2,2 Monate). Leicht rückläufig ist die Zahl der Beschwerden in Bußgeldsachen (Eingänge 2023: 1.150; hochgerechnet 2024:1.066) bei einer ebenfalls gesunkenen durchschnittlichen Verfahrensdauer (2023: 2,5 Monate; 2024 hochgerechnet: 1,75 Monate). Auch die Zahl der Haftentscheidungen nach der sog. Sechsmonatsprüfung schwächt sich ab (2023: 680, 2024 hochgerechnet: 581).
Im Familienbereich bewegt sich die Zahl der Eingänge in Familiensachen - ohne Beschwerden - auf dem Niveau des Vorjahres (2023: 1.589; 2024 hochgerechnet: 1.589) bei einer leicht angestiegenen durchschnittlichen Verfahrenslaufzeit (2023: 5,8 Monate; 2024 hochgerechnet 6,2 Monate).
Massenverfahren beschäftigen das OLG weiterhin: Knapp 360 Berufungen betreffen behauptete Verstöße gegen die DSGVO. In der Mehrzahl wenden sich die Klagen gegen einen geltend gemachten rechtswidrigen Datenabzug. Weitere knapp 200 Berufungen beziehen sich auf Online-Spiel- und Sportwetten. Die Kläger berufen sich dort auf unwirksame Spielerverträge und begehren verlorene Wetteinsätze zurück. Ebenfalls ansteigend ist die Zahl der Berufungen im Zusammenhang mit behaupteten Impfschäden durch Impfstoffe gegen Corona. Derzeit sind 12 Verfahren anhängig. Berufungen, in denen Schadensersatzansprüche wegen des sog. Dieselabgasskandals geltend gemacht werden, haben dagegen mit lediglich knapp 200 Eingängen im Jahr 2024 massiv abgenommen (2023: 721; Höchststand 2019: 2.237). Dies betrifft auch Berufungen, die Käufer von Wohnmobilen wegen des sog. Dieselabgasskandals einlegten (2024: 70 Verfahren im Haupthaus; 2023: 255).
Mit 132 im Jahr 2024 liegt die Zahl der Sitzungen der beiden Staatsschutzsenate weiterhin auf einem sehr hohen Niveau (2023: 164 Sitzungstage; 2022: 130 Sitzungstage, 2021: 95 Sitzungstage). 2024 haben sie fünf Urteile, vier davon rechtskräftig, erlassen. Sie betrafen in drei Fällen u.a. den Vorwurf der Beteiligung an der ausländischen terroristischen Organisation „IS“, in einem Fall an der „PKK“ und einem weiteren Fall an einer inländischen terroristischen Organisation (sog. „Kaiserreichsgruppe“). Gegenwärtig dauert das vor dem 5. Strafsenat geführte Hauptverfahren gegen Alaa M. wegen des Vorwurfs, als Assistenzarzt in 18 Fällen Folterungen an Zivilisten vorgenommen zu haben, nach inzwischen 172 Verhandlungstagen weiter an. Es wurden bereits 51 Zeugen vernommen, 53 Sachverständige angehört und mehr als 300 weitere Beweismittel (u.a. Urkunden, Videodateien) in die Hauptverhandlung eingeführt. Wieweit sich durch die aktuelle politische Entwicklung in Syrien Änderungen in Bezug auf die Bewertung von momentanen Bedrohungslagen ergeben, ist derzeit offen. Der Senat hat Termine bis zum Sommer 2025 bestimmt. Der 8. Strafsenat hat bereits 41 Verhandlungstage in dem eigens für dieses Verfahren errichteten Außensitzungssaal in Sossenheim im Verfahren gegen Heinrich XIII. und weitere acht Angeklagte im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer inländischen terroristischen Vereinigung und der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens durchgeführt und u.a. 11 Zeugen vernommen. „Täglich sind weiterhin über 40 Wachtmeister im Dienst. Es bleibt ein Mammutverfahren mit erheblichem organisatorischen Aufwand“, schilderte Präsident Dr. Seitz. Derzeit hat der Senat Fortsetzungstermine bis Mitte des nächsten Jahres bestimmt.
Zwei weitere Verfahren im Zusammenhang mit dem Vorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an bzw. der Unterstützung der ausländischen terroristischen Vereinigung „IS“ befinden sich derzeit im sog. Zwischenverfahren ebenso wie ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der kurdischen Arbeiterpartei „PKK“. Schließlich hat der 8. Strafsenat noch über einen Antrag der Bundesanwaltschaft auf Eröffnung eines selbständigen Einziehungsverfahrens wegen eines nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbaren versuchten Embargo-Verstoßes zu entscheiden. Der Antrag ist auf die Einziehung des Kontoguthabens eines russischen Finanzinstituts bei einer Bank in Frankfurt am Main in Höhe von mehr als 720 Mio. € gerichtet.
Sowohl der Generalbundesanwalt beim BGH als auch die Generalstaatsanwaltschaft haben die Erhebung weiterer Anklagen für das Jahr 2025 angekündigt.
Am 1. April 2025 wird das Gesetz zur Stärkung des Justizstandortes Deutschlands in Kraft treten. Es sieht die Einführung eines Commercial Courts, vor dem Verfahren auch auf Englisch geführt werden können, in der Zivilgerichtsbarkeit bei den Oberlandesgerichten vor. Die Umsetzung dieses Gesetzes erfolgt durch Verordnungen der Landesregierung. In Hessen wird dies voraussichtlich zum 1. Juli 2025 der Fall sein. Das OLG wird rechtzeitig und mit Nachdruck durch entsprechende organisatorische Maßnahmen die Einrichtung fördern.
Seit inzwischen 1 ½ Jahren arbeitet das OLG nunmehr im Zivil- und Familienbereich mit der elektronischen Akte. Mit Stichtag 1. Januar 2025 wird ab diesem Zeitpunkt für alle Verfahren ausschließlich der elektronische Aktenteil führend, d.h. allein maßgeblich, sein. Für Anfang 2025 ist zudem die Pilotierung der elektronischen Akte auch in den Strafsenaten geplant. „Die Arbeit mit der elektronischen Akte bleibt eine tägliche Herausforderung. Unzulänglichkeiten sind noch vorhanden, viele Abläufe haben sich aber zwischenzeitlich eingespielt“, schilderte Präsident Dr. Seitz den digitalen Arbeitsalltag.
Im Rahmen des Bau- und Sanierungsprojekts des Justizzentrums Konstablerwache wurde nunmehr das unmittelbar neben dem OLG liegende Gebäude Z vollständig abgerissen. Anfang des neuen Jahres schließen sich der Rückbau des Kellers und Aushub der neuen Baugrube an. Ab dem 2. Quartal 2025 soll der Rohbau erstellt werden; der Ausbau ist für das 4. Quartal 2025 eingeplant. „Ich danke den Mitarbeiterinnern und Mitarbeitern, dass trotz phasenweise stärkerer Belastungen durch Baulärm und Erschütterungen des Haupthauses die Arbeit uneingeschränkt konzentriert fortgesetzt wurde. Mein besonderer Dank gilt den wegen des Umbaus nach Niederrad umgezogenen Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Sie nehmen teilweise erheblich längere Fahrtwege hin und müssen die räumlich und persönlich spürbare Trennung vom Haupthaus täglich ausgleichen“, führte Präsident Dr. Seitz aus.
„Nachdem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des OLG in diesem Jahr trotz der zusätzlichen Belastungen durch die Umstellung auf die elektronische Akte und des Umbaus die Funktionsfähigkeit des OLG eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben, blicke ich sehr zuversichtlich in das Jahr 2025“, schloss Präsident Dr. Seitz den traditionellen Jahresrück- und -ausblick.