Nr. 57/2024
Der 5. Strafsenat - Staatsschutzsenat - des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG) hat heute die 33-jährige Zuhal A. der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland sowie der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
In der an elf Tagen durchgeführten Hauptverhandlung hat der Senat Folgendes festgestellt:
Die Angeklagte ist deutsche Staatsangehörige. Ihre Eltern stammen aus Afghanistan und flohen Ende der 1980er Jahre über Pakistan nach Deutschland. Die Kindheit der Angeklagten war von physischer und psychischer Gewalt geprägt, da der Vater, der Frauen als wertlos betrachtete, zunächst die Mutter der Angeklagten und später auch die Angeklagte selbst körperlich und seelisch misshandelte. Spätestens ab dem Jahr 2008 wandte sich die Angeklagte einer islamistisch-salafistischen bzw. jihadistischen Glaubenseinstellung zu. Ihre religiöse Radikalisierung ging mit einer parallel verlaufenden Entwicklung bei ihrem jüngeren Bruder einher, der im November 2013 - ebenfalls durch den 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main - wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland („Islamische Bewegung Usbekistan“, nachfolgend „IBU“) unter Einbeziehung einer weiteren Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist.
Im Jahr 2006 lernte die Angeklagte in einem muslimischen Internetforum einen zum Islam konvertierten Deutschen kennen, den sie im Jahr 2008 nach islamischem Ritus und im Jahr 2009 standesamtlich heiratete. Beide verband ihre übereinstimmende jihadistische Glaubenseinstellung und spätestens seit dem Jahr 2008 vertraten sie die Auffassung, dass sie als gläubige Muslime verpflichtet seien, in den bewaffneten Jihad zu ziehen.
In Umsetzung dieser Vorstellung reisten beide im Oktober 2011 mit ihrer zweijährigen Tochter und ihrem zweimonatigen Sohn über Pakistan nach Waziristan aus, um dauerhaft bei der terroristischen Vereinigung „IBU“ zu leben, nachdem der nach islamischen Ritus angetraute Mann der Angeklagten sich bereits im Jahr 2010 während eines dreimonatigen Aufenthalts mit der Angeklagten in Pakistan einer militärischen Ausbildung der „IBU“ unterzogen hatte.
Nachdem der nach islamischen Ritus angetraute Ehemann im Februar 2012 als Kämpfer der „IBU“ bei einem Drohnenangriff amerikanischer Streitkräfte getötet worden war, war die Angeklagte zunächst mit ihren beiden Kindern auf sich alleine gestellt und wurde im November 2012 mit einem achtzehn Jahre älteren „IBU“-Mitglied zwangsverheiratet. Der Angeklagten gelang nach wenigen Monaten die Flucht aus der von Gewalt geprägten Zwangsverbindung und sie flüchtete in ein wazirisches Bergdorf zu einer afghanischen Familie. Ihr drittes Kind - ein Sohn, den sie wenige Monate später zur Welt brachte und der aus der Zwangsehe hervorgegangen war - wurde ihr in der Folge von dem Kindsvater weggenommen, nachdem dieser sie ausfindig gemacht hatte. Bis zum heutigen Tag ist es der Angeklagten nicht gelungen, Erkenntnisse über den Verbleib und das Wohlergehen ihres dritten Kindes zu gewinnen. Die sie beherbergende Familie vermittelte in der Folge - im März 2014 - eine dritte Ehe für die Angeklagte.
Bei dem dritten Ehemann der Angeklagten nach islamischem Ritus handelte es sich um einen ebenfalls radikal-fundamentalistischen und jihadistischen Muslim, der aus Afghanistan stammte und wegen mutmaßlicher mitgliedschaftlicher Beteiligung an der terroristischen Vereinigung „IBU“ mehrere Jahre in Haft verbracht hatte. Mit ihm lebte die Angeklagte zunächst mehrere Monate in seiner Wohnung in Peschawar und kurze Zeit in seinem Haus in Kundus, bis der Entschluss fiel, nach Syrien in das dort im Juni 2014 durch Abu Bakr al-Baghdadi, den damaligen Anführer der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (nachfolgend „IS“), ausgerufene Kalifat zu ziehen. Von dem Leben in dem vom „IS“ ausgerufenen Kalifat versprach sich die Angeklagte das islamische und gottgefällige Leben, das ihrer Ansicht nach in Deutschland nicht möglich war. Dass eine Ausreise in das vom „IS“ beherrschte Gebiet aber wiederum das Leben in einem jihadistischen Kampfgebiet und damit die konkrete Gefahr der Schädigung ihrer Kinder bedeutete, nahm sie bewusst in Kauf.
Im September 2014 reiste die zu dieser Zeit im fünften Monat schwangere Angeklagte mit ihrem nach islamischen Ritus angetrauten Ehemann und ihren Kindern mithilfe von „IS“-Schleusern auf dem Landweg von Afghanistan über Pakistan und den Iran bis in die Türkei, wo sie zu Fuß die türkisch-syrische Grenze überquerten. Während die Angeklagte mit ihren Kindern etwa einen Monat in einem sogenannten Frauenhaus in Raqqa lebte, unterzog sich ihr nach islamischen Ritus angetrauter Ehemann in einem Trainingslager des „IS“ einer militärischen Grundausbildung. In der Folgezeit lebten sie zunächst bis Ende des Jahres 2016 in einem Dorf in der Nähe von Manbij, wo der nach islamischen Ritus angetraute Ehemann als Kämpfer des „IS“ für Wachdienste eingeteilt wurde.
Die Angeklagte, die die Ideologie, die Handlungsweisen und die Ziele des „IS“ kannte und guthieß, weil sie ihren jihadistischen Glaubensvorstellungen entsprachen, gliederte sich von Beginn ihres Aufenthaltes im „IS“-Gebiet in die Vereinigung ein und unterwarf sich von Beginn an den Regeln des „IS“. Sie befürwortete die Tätigkeit ihres nach islamischen Ritus angetrauten Ehemanns für den „IS“ und unterstützte ihn, in dem sie den Haushalt führte, die gemeinsamen im Dezember 2014 und Januar 2017 geborenen Kinder und ihn versorgte und ihm damit ermöglichte, sich auf seine Tätigkeit als Kämpfer für die Vereinigung zu konzentrieren. Das Paar lebte von Leistungen der Terrororganisation, die neben dem Schutz vor Feinden auch die Zahlung eines monatlichen Lohns für beide umfasste.
Nur wenige Monate nach Anschluss an den „IS“ wurde der nach islamischen Ritus angetraute Ehemann in die „IS“-Verwaltung aufgenommen und einem der sogenannten „Märtyrerbüros“ zugewiesen. Diese waren für die Versorgung der Hinterbliebenen gefallener Kämpfer, insbesondere deren Witwen und Waisen, zuständig. Um der vom „IS“ vorgeschriebenen und überwiegend streng praktizierten Geschlechtertrennung gerecht zu werden, band der nach islamischen Ritus angetraute Ehemann die Angeklagte in sämtliche Tätigkeiten ein, die den direkten Kontakt zu Frauen, d.h. zu den Witwen erforderte und nahm die Angeklagte insbesondere zu den Hausbesuchen mit, die mit der Übermittlung von Todesnachrichten, der Registrierung von Witwen und der Auszahlung des Witwengeldes einhergingen. Diese Aufgaben erfüllten beide nahezu bis zum Ende ihres Aufenthaltes im „IS“-Gebiet.
Als die Angriffe der „Anti-IS“-Koalition auf den „IS“ in der Region um Manbij deutlich zunahmen, zogen sie mit den Kindern mit einer allgemeinen Fluchtbewegung von „IS“-Angehörigen nach Baghuz, den letzten Rückzugsort des „IS“, der am 23.3.2019 von der „Anti-IS“-Koalition eingenommen wurde. Wenige Tage zuvor, am 19.3.2019, ergaben sich beide mit den vier Kindern den Einheiten der kurdischen Volksverteidigung, nachdem sie und insbesondere die Kinder den monatelangen Strapazen der Flucht und in den letzten Wochen in Baghuz massiven Kampfhandlungen ausgesetzt waren.
Ab dem 21.3.2019 lebte die Angeklagte mit ihren Kindern unter schwierigen Bedingungen im Lager al-Hawl in Nordsyrien, das unter kurdischer Verwaltung steht. Von dort wurde sie nach fast zweimonatigen Aufenthalten in den Haftanstalten von al-Hawl, Hasakah und Roj am 1.11.2022 nach Deutschland zurückgeführt und nach ihrer Landung in Ramstein festgenommen. Vom 2.11.2022 bis zum 26.1.2023 befand sich die Angeklagte in Untersuchungshaft.
Trotz des Gewichts der Taten war bei der Strafzumessung ganz erheblich zu Gunsten der Angeklagten ihr vollumfängliches und überschießendes Geständnis zu berücksichtigen, durch das sie Tatsachen offenbart hat, die den strafrechtlichen Ermittlungen verschlossen geblieben waren. Erheblich strafmildernd wirkte sich zudem aus, dass die Angeklagte nicht vorbestraft ist, die Taten bereits fünfeinhalb Jahre zurückliegen und die Angeklagte Jugendliche war, als sie im Jahr 2011 dauerhaft Deutschland verließ. Weiter war zu berücksichtigen, dass sich die Angeklagte glaubhaft von der „IS“-Ideologie losgesagt hat und als Zeugin in weiteren Ermittlungsverfahren gegen „IS“-Rückkehrerinnen zur Verfügung steht. Die Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ist erfolgt, weil die nicht vorbestrafte Angeklagte sich seit Begehung der Taten straffrei geführt hat und ihr während des mehr als dreieinhalbjährigen Gewahrsams im Lager al-Hawl unter schwierigsten Lebensbedingungen das von ihr begangene Unrecht bereits - jedenfalls teilweise - verdeutlicht worden ist. Hinzu kommt, dass die Angeklagte nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik eine durchweg positive Entwicklung genommen hat.
Das Urteil ist rechtskräftig, nachdem alle Seiten einen Rechtsmittelverzicht erklärt haben.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 11.10.2024, Az. 5 St 3/23